Gibt’s das heute noch, den Beruf Hirt?

Liebe Schwestern und Brüder,
hier können Sie jene Predigt nachlesen, die heute live im NDR im Rahmen einer Gottesdienstübertragung gehalten wurde:

Liebe Schwestern und Brüder an den Rundfunkgeräten,
liebe Schwestern und Brüder in unserer Quickborner Kirche!

„Gibt‘s das heute noch, den Beruf Hirt?“ las ich als Anfrage. Selbstverständlich! Beim Nachgehen dieser Frage erfuhr ich: Bei fast 2 ½ Mill. Schafen allein in unserem Land gibt es immerhin rund 34.000 Hirten, darunter eine ganze Reihe Frauen. Auch wenn die Tätigkeiten eines Schäfers, einer Schäferin bei unregelmäßigen Arbeitszeiten, gegebenenfalls rund um die Uhr, nicht zu unterschätzen sind: Das Leben zusammen mit Tieren, im Freien – an der frischen Luft, ist für nicht wenige Frauen und Männer auch heute ein Traumberuf.

Das Bild des Hirten hat was. Es versinnbildlicht die Nähe zu den Schafen als jemanden, der die ihm anvertraute Herde schützt. Die christliche Tradition greift das Bild des Hirten auf und überträgt es auf die Seelsorge. Der Hirt bzw. der Pastor versteht sich als Beschützer und Begleiter einer Gemeinschaft von Glaubenden. Solche Hirten hat es immer gegeben, wir brauchen sie – auch heute. Mit diesem Sonntag des Guten Hirten geht einher die Bitte um Geistliche Berufungen wie Priester, Diakone und Ordensleute sowie für weitere Theologinnen und Theologen im Dienst der Kirche.

Wir könnten auch hier fragen: Geistliche Berufungen – gibt’s das heute noch? Pastor zu sein beispielsweise war für viele tatsächlich ein Traumberuf – und er ist es für mich und viele andere noch heute. Auch wenn sich viele Wirklichkeiten änderten, so besitzt doch das Berufsbild des Pastors bis heute seinen eigenen Charme.

Mit dem Wort „Hirt“ verbinden wir Ideale wie Verlässlichkeit, Treue, Sicherheit, Schutz. Eigenschaften, die wir auch in unserem persönlichen Umfeld zu gern wahrnehmen wie beispielsweise im Freundkreis oder unter Arbeitskollegen. Ein Betriebsklima verbessert sich, wenn Führungskräfte da sind, denen Mitarbeiter vertrauen können, und wenn achtsam und umsichtig mit Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen umgegangen wird.

Vor einiger Zeit las ich, dass es zwei Sorten von Hirten gibt: „Die einen interessieren sich für das Fleisch und die Wolle, die anderen Hirten sorgen sich um das Schaf.“ Über diesen Satz kann man lange nachdenken. Denn wie oft kommt es beklagenswerter Weise vor, dass jemand seine Führungsaufgabe zum Eigennutz missbraucht.

„Gibt‘s das heute noch, den Beruf Hirt?“ Diese Frage stellen sich viele, wenn sie an das Leben in den Kirchengemeinden denken. Pfarreien mit ihren gewachsenen Strukturen erfahren gegenwärtig viele Veränderungen. Wegen des Führungskräftemangels in der Kirche werden größere Gemeindeverbände gebildet. Die unmittelbare seelsorgliche Nähe dünnt sich aus. Gläubige sind besorgt und wissen noch gar nicht, wie sie mit den zu befürchtenden Distanzen umgehen sollen.

Papst Franziskus ist da ermutigend, weil er jedem einzelnen Christen Mut zuspricht. Der Papst kennt keine Resignation, er wünscht sich vielmehr eine neue Einstellung. Diesen Aufbruch des Denkens hat der Heilige Vater mit seinem gestrigen Besuch bei den vielen hilflos gestrandeten Flüchtlingen auf der griechischen Insel Lesbos eindrucksvoll bewiesen. Papst Franziskus erinnert an den unerschöpflichen Wunsch, den Menschen unserer Zeit das große Geschenk Göttlicher Barmherzigkeit heranzutragen: „Wagen wir mehr Initiative zu ergreifen“, ruft der Heilige Vater auf, „den Menschen mehr denn je von der einzigartigen Liebe Jesu mitzuteilen und diese untereinander auch zu leben.“ Diese Initiative zur Barmherzigkeit soll dabei nicht auf unseren Lebensbereich begrenzt bleiben, sondern wir sollen phantasievoll und großzügig damit umgehen.

Dazu passt ein prophetisches Wort des großen Theologen Karl Rahner. Er sagte einmal: „Wer das Sakrament der Taufe empfangen hat, ist irgendwie selbst eine Seelsorgerin bzw. ein Seelsorger.“ In einer Zeit, wo wir uns Gedanken machen um neue geistliche Berufungen, dürfen wir als Getaufte den Blick auf uns selber lenken: Wie trage ich die Botschaft des Evangeliums Jesu weiter? Wie bin ich selber Zeuge göttlicher Barmherzigkeit? Wie kann ich selber zu einem Hirten, zu einer Hirtin werden, auf den sich meine Mitmenschen verlassen können?

Eine neue Einstellung ist gefragt. Natürlich freuen wir uns auch in unserer heutigen Zeit über neue Geistliche Berufungen wie Priester, Diakone und Ordensleute sowie weitere Theologinnen und Theologen im Dienst der Kirche. Wir dürfen im Rahmen der Weltkirche ebenso darüber nachdenken, wie der Kreis der Berufungen zu erweitern wäre.

Auch das hat etwas mit unserem Hirtenbild zu tun. Wir denken an einem solchen Tag wie heute auch an die vielen Frauen und Männer, die wie alle anderen Berufenen der Kirche das Bild des Guten Hirten in sich tragen, die im Geist des Ehrenamtes Verantwortung übernehmen in den Kirchengemeinden, in Ausbildungsstätten ebenso wie in Seniorenwohnheimen, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz, ebenso in der Begegnung mit Obdachlosen und mit Flüchtlingen.

In ihrer Sorge, in ihrer Seelsorge, nehmen sie den Guten Hirten Jesus Christus zum Vorbild. Was sie an diesem Bild Jesu fasziniert? Gewiss die Selbstlosigkeit Jesu, den nicht, um im Bild zu bleiben, das Fleisch und die Wolle interessiert, sondern das Leben, den Menschen.

Hirten, gibt’s die noch? Ja, es gibt sie. Und es gibt sie mehr, als wir vordergründig wahrnehmen. Es kann allerdings schon passieren, dass wir das Empfinden haben, allein gelassen zu sein, dass niemand da ist, der sich um uns kümmert, keiner, der uns versteht. Was machen wir da?

Das Beste, was wir tun können, ist: Jesus beim Wort nehmen. Erinnern wir uns an die Worte Jesu: „Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie.“ Wir dürfen Jesus beim Wort nehmen: Er kennt uns. „Kennen“ ist in diesem Zusammenhang mehr als von einem wissen. „Kennen“ be-deutet hier so viel wie: Ich habe eine außergewöhnliche Nähe zu ihm. „Kennen“ bedeutet: Von jemandem bis in die Tiefenschichten der Seele zu wissen, ja, ihn zu lieben. Mit Jesus begegnet uns jener Hirt, der uns mehr liebt, als wir uns selbst lieben können. Das Hirtenbild des Auferstandenen ist so etwas wie eine Krönung unseres Bildes von Gott. In Jesus liebt Gott uns so, wie kein anderer uns lieben kann.

„Mein Hirt ist Gott der Herr“ werden wir in dieser heiligen Feier noch singen. Dieser Ruf des Vertrauens bleibt für uns ein Herzensanliegen. Gerade auch in schweren Augenblicken geht einher unser göttliches Vertrauen, wenn wir im selben Lied weitersingen: „Ich weiß mit Zuversicht, du, Herr, du wirst mich führen.“

Hirten, gibt’s die noch? Ja, es gibt sie. Und einer wird immer da sein als der Gute Hirt – und er bleibt.

Pfarrer Wolfgang Guttmann