Das Bild des Göttlichen in uns

christ-898330_1920Liebe Schwestern und Brüder,

jeder hat in seinem Leben schon unzählige Bilder von Jesus betrachtet. Dabei war es nie eine Fotografie. Es waren Bemühungen von Menschen, über die verschiedenen Epochen bis in unsere heutige Zeit ein Bildnis jener geheimnisvollen Gestalt zu schaffen, die gleichzeitig menschlich und zugleich auch göttlich, die irdisch und zugleich ewig ist. Es ist die Gestalt Jesus als Neugeborener in den Armen seiner Mutter, Jesus im Kreis seiner Familie, Jesus als guter Hirt, Jesus als Wunderheiler, Jesus als Lehrer, Jesus als Gekreuzigter, Jesus als Auferstandener, Jesus als Herrscher des Alls, Jesus als Verherrlichter zur Rechten Gottes des Vaters, Jesus als der Wiederkommende am Ende der Zeiten – um nur einige Bildmotive zu nennen.

Das Betrachten dieser Bilder ist immer auch eine Anfrage an den Betrachter selber, welches das eigene persönliche Bild ist, welches jemand von Jesus hat. Ob dieses Bild von meinem Gegenüber wirklich in sich stimmig ist, ist ein Lebensthema von Max Frisch (1911-91). Der Züricher Schriftsteller geht davon aus, dass wir gerade über jenen Menschen, den wir am meisten mögen, am wenigsten aussagen können. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht das Wunderbare an dieser besonderen Liebe, dass sie uns in der Schwebe hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen.

In der Beziehung zu Jesus ist es nicht anders. Wenn Jesus seine Jünger fragt: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Lk 9,20), kann eine Antwort nur aus dem Empfinden der Liebe gegeben werden. Auch wenn Petrus für den Kreis der Apostel bekennt, „Du bist der Messias Gottes“ (Lk 9,20), so bleibt Jesus allemal ein sich stets wandelndes Geheimnis göttlicher Liebe. Eine Nachfolge Jesu schließt daher das Wagnis mit ein, sich auf Jesus einzulassen und zugleich der geheimnisvollen Dynamik göttlicher Liebe auszusetzen.

Hinsichtlich eines Bildnisses von Jesus gibt es für mich mehrere faszinierende Phänomene. Drei davon möchte ich nennen:

1. Jesus wird sagen: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh 8,12), „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,51), „Ich bin der gute Hirt“ (Joh 10,11). Diese Bildworte wie viele andere bedenkenswerte Worte wird der Sohn Gottes nicht selber zu Papier bringen. Über das Leben Jesu sowie über seine göttliche Botschaft wissen wir nur deshalb so viel, weil andere sein Leben niedergeschrieben haben – eben aus echter Zuneigung zu ihm. Sie zeigten sich beeindruckt von der Gestalt Jesu. Mit ihren biblischen Worten „zeichneten“ sie von Jesus sozusagen ein unvergessliches Bild, um dieses für sich und für die Nachwelt stets in liebevoller Erinnerung zu behalten.

2. Die verschiedenen Autoren des Neuen Testamentes wussten allemal, dass ein Christ sich wegen des Lebens Jesu nicht zu schämen braucht. Verstehen kann man eine Religion eigentlich nur, wenn man auf die Ursprünge zurückblickt. Jesus versteht sich selbst zwar nicht als christlicher Religionsstifter. Dennoch kommt Jesus in unsere Welt wie eine wohltuende Ausnahmeerscheinung. Jede Frau, jeder Mann, jedes Kind kann sich den Sohn Gottes zum Vorbild nehmen. Jesus will nichts anderes, als dass es dem Menschen gut geht. Jesus will das Heil des Menschen. Kein Wunder, wenn unzählige Menschen auch heute eine Nähe zu Jesus suchen. Sie vollziehen nach, wenn Jesus von sich selbst sagt: „Ich bin gütig und von Herzen demütig. Mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht“ (Mt 11,29). Jesus möchte auch jede lähmende Angst beseitigen zu helfen: „Fürchtet euch nicht“ (Mt 10,26-31) und „Habt keine Angst“ (Mt 17,7) wird Jesus den Menschen regelmäßig zusprechen. Wo Jesus ist, will jegliche Angst besiegt werden.

3. Wenn Papst Franziskus dieses Jahr als ein Heiliges Jahr ausruft, dann deswegen, weil er die Grundzüge göttlicher Barmherzigkeit herausstreichen möchte, wie sie uns im Neuen Testament von Seite zu Seite begegnen. So heißt es im Lukasevangelium: „Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes hat uns besucht das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“ (1,78f). Papst Franziskus möchte, dass jeder einzelne durch das Bekenntnis seines Glaubens an Jesus Christus reichen Trost erfährt. Papst Franziskus möchte zudem auch, dass jeder Getaufte dieses Wissen um die barmherzige Liebe Gottes nicht für sich behält, sondern das Bedürfnis verspürt, diese Erkenntnis durch seine Gestik, durch seine Sprache und durch sein Handeln weitergibt vor allem auch dorthin, wo Lebenshoffnungen durch schwierige oder sogar unmenschliche Lebensbedingungen erstickt werden.

Wer ist also dieser Jesus für mich? Gut, dass es von Jesus keine Fotografie gibt. Die Spuren des Göttlichen reichen tiefer. Beantworten können wir diese Frage ausschließlich mit dem Empfinden der Liebe. Sie ist eine glaubende persönliche Angelegenheit zwischen Jesus und jedem einzelnen. Als Antwort kann herauskommen: Jesus ist jemand, der konsequent für mich ist, dass er mich hält und alle mir Anvertrauten. Machen wir es mit unseren Möglichkeiten Jesus einfach nach.

Pfarrer Wolfgang Guttmann