Ort des Leidens – Ort der Freude

Wort der Woche für die Karwoche und Ostern:

Die Feier der Karwoche ist ein dramatisches Geschehen. Die Geschehnisse von damals, Einzug in Jerusalem, Abendmahl, Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung werden in den Gottesdiensten nicht nur erzählt, sondern zugleich in Szene gesetzt. Die Teilnehmer der Gottesdienste sind nicht bloß Besucher, sondern werden selbst zu Akteuren. Die Karwoche soll erfahren werden.
Eine Hauptrolle in der Handlung von Palmsonntag bis Ostern spielt dabei die Stadt Jerusalem. Das Kirchgebäude übernimmt diese Rolle. Deshalb beginnt der Palmsonntag draußen, vor den Toren der Stadt, also vor der Kirche. Jesus bereitet seinen Einzug in Jerusalem vor. So wie die Menschen, die mit ihm gehen, ziehen ihre Nachfolger, die Jüngerinnen und Jünger Jesu von heute mit Zweigen in den Händen singend in die Stadt, also in die Kirche ein. Was dort auf sie wartet ist allerdings kein triumphaler Empfang, sondern die Passion Jesu. Sie wird am Palmsonntag das erste Mal erzählt, mit verteilten Rollen, um sie lebendiger und realer zu gestalten.

Am Gründonnerstag verwandelt sich die Kirche in den Abendmahlssaal. Die Fußwaschung und die Eucharistie bilden die Zeichen des Abendmahls realsymbolisch nach. Der Ortswechsel am Ende des Gottesdienstes bildet einen Übergang. Jesus geht mit seinen Jüngern in den Garten am Ölberg. So folgen ihm die Jünger von heute zum Gebet an einen separaten Ort innerhalb des Kirchgebäudes, während der Hauptraum der Kirche leergeräumt wird. Die Stadt wird gegenüber Jesus zum feindlichen Ort. Aller Schmuck und damit auch alle Freude ist aus ihr herausgenommen.
Was hier zeichenhaft geschieht, hat eine lange Geschichte. Es bildet die Verwüstung und Zerstörung Jerusalems nach, wie sie im Alten Testament, etwa in den Klageliedern beschrieben wird. Weil Jerusalem und seine Bewohner Gott untreu geworden sind und sich von ihm abwenden, kommt die Katastrophe über die Stadt.

Jerusalem wird zum Ort der innerlich und äußerlich verödet. Das Matthäusevangelium nennt in der Todesstunde Jesu drei Zeichen, die geschehen (Mt 27): Der Vorhang des Tempels reißt entzwei, es gibt ein Erdbeben und Tote kommen aus ihren Gräbern. Dies sind Zeichen, die der Prophet Ezechiel für das Gericht und den Neuanfang Gottes mit seinem Volk vorhergesehen hat (Ez 37/38). Der Tempel ist entweiht worden – Gott ist darin nicht mehr zu finden. Der Tempel muss neu errichtet werden (Ez 44). Das Evangelium deutet es so: Nicht mehr der Tempel ist Ort der Präsenz Gottes, sondern der Menschensohn, der am Kreuz stirbt. Entsprechend trostlos und verwüstet ist die Kirche am Karfreitag und Karsamstag. Der Tabernakel ist leer. Als Zeichen der Präsenz Gottes ist einzig das Kreuz zu sehen.

Die Osternacht beginnt wieder vor den Toren der Kirche, wie auch das Grab Jesu vor den Toren der Stadt liegt. Das Licht der Auferstehung, das in die Kirche gebracht wird, soll der verwüsteten Stadt neues Leben bringen. Es ist der Übergang zu einem neuen Jerusalem. Der Prophet Ezechiel beschreibt die Neuschaffung Jerusalems so (Ez 47): Mitten im neuen Tempel, der von der Herrlichkeit Gottes erfüllt ist, entspringt eine Quelle. Ihr Wasser ergießt sich in die ganze Stadt und in das ganze Land, so dass das Land aufblüht und neues Leben hervorbringt. Von jetzt an wird Gott Jerusalem nicht mehr verlassen. Die Osternacht deutet dies auf die Taufe: Der Brunnen der Taufe wird neu geöffnet. Weil Christus das neue Leben bringt, sein Leib den neuen Tempel bildet, ist es auch uns möglich mit ihm in der Taufe verbunden dieses neue Leben zu haben. Das Wasser wird über die versammelte Gemeinde ausgesprengt.

Die Kirche verwandelt sich in österlichem Schmuck zum Bild des neuen Jerusalems, das von Gott nicht mehr verlassen wird (Offb 21). Von jetzt an wird jede Eucharistiefeier dieses Ostergeschehen vergegenwärtigen. Die Eucharistie wird zur Feier der bleibenden Verbindung der Kirche und der Gläubigen mit Christus. Nun wird auch der Tabernakel als Ort der ständigen Gegenwart Christi in der Gestalt der Eucharistie wieder gefüllt. Jerusalem hat sich verwandelt. Und mit der Stadt sollen auch wir den Wandel erfahren und ihm in unserem Leben Ausdruck verleihen. Jerusalem wird zum Symbol der Kirche aus lebendigen Steinen, die immerfort das Lob Gottes singt.

(Pfarrer Dr. Georg Bergner)